von Hans-Jürgen Von der Wöste
Nein, die gibt es nicht! Wenn man von Lockerheit spricht meint man entweder das musikalische Resultat oder aber man spricht von einer verkrampften Körperregion, die gelockert werden muss. Diese Verkrampfung ist aber eine Kompensierung, die daraus resultiert, dass es eine andere Körperregion gibt, die zu schwach entwickelt ist oder nicht in der richtigen Intensität angesteuert wird. Wenn man also die Stärkung dieser Region bei der Tonerzeugung nicht erwähnt, ist das nur die halbe Wahrheit.
Ich versuche diesen scheinbaren Widerspruch aufzuzeigen und zu erklären.
Da viele Bläser den Blasebalg als Erklärung heranziehen, bleiben wir bei diesem Blasebalg-Prinzip.
Zunächst können wir feststellen, dass es zwei Bewegungsimpulse gibt, ich nenne sie hier erste Kraft und zweite Kraft siehe Zeichnung.
Bei der Betätigung des Blasebalgs wird man automatisch die beiden Kraftimpulse zueinander führen und der daraus entstehende Luftdruck wird mittels einer Verengung/Düse in Luftgeschwindigkeit umgewandelt. Insofern ist das Blasebalg-Prinzip richtig.
Man könnte meinen, dass das Zwerchfell in der Blastechnik die erste und zweite Kraft ersetzt und die Funktion der Düse (siehe Zeichnung) von den Lippen hergestellt wird.
Viele sehen das sogar so, aber man kann dieses Prinzip nicht eins zu eins umsetzen, weil man mit so einer primitiven Mechanik keine künstlerische Leistung in der Musik erzielen kann. Diese einfache Mechanik dient höchstens für die Presslufttröte auf dem Fußballfeld.
In meiner aktiven Zeit als Trompeter zweier Philharmonischer Orchester habe ich auch nur einen Gesamtimpuls wahrgenommen. Erst in meiner Zeit als Bläserpädagoge habe ich durch Erklärungsversuche an meinen Schülern diesen Gesamtimpuls in zwei verschiedene Kraftimpulse aufteilen können. Aber zurück zu unserem Blasebalg!
Die beiden Kräfte der Druckhebel bei unserem Blasebalg haben eine gleiche Funktion, sie üben also gleichwertige Kraft aus. Die Kräfte für die Blastechnik haben aber unterschiedliche Funktionen, bzw. Auswirkungen und sind unterschiedlich beim Bläserschüler veranlagt. Lesen Sie hierzu auch „Das Blasinstrument und der Atemhilfsmuskel“.
Der eine Druckhebel/Krafthebel unseres Blasebalgs ist die Bauchregion (in unterer Zeichnung mit D/E dargestellt).
Der andere Druckhebel/Krafthebel setzt sich aus mehreren Muskeln zusammen (in unterer Zeichnung mit A/B/C dargestellt).
Diese unterschiedlich veranlagten Kräfte, in Verbindung mit der Kehlfunktion, müssen nun für unterschiedliche Tonhöhen und unterschiedliche Lautstärken, das Kräfteverhältnis dauernd verändern.
Untere Zeichnungen dienen der Verdeutlichung.
Die untere Zeichnung soll den Brustkorb von der Seite darstellen und die roten Striche zeigen ein Bewegungsschema der einzelnen beteiligten Muskel im gespannten Zustand.
Rote Linie = Muskelbewegung / grüner Pfeil = die daraus entstehende Auswirkung / Luftlenkung
A = die Zwischenrippenmuskulatur (Interkostalmuskulatur) Atemmuskel, ein Teil dieser Muskulatur (Musculi intercostales interni) zieht den Brustkorb zusammen.
B = innerer Brustmuskel (M. Transversus thoracis) Atemhilfsmuskel, zieht den Brustkorb nach innen/abwärts.
C = Rückenmuskel (M. latissimus dorsi), auch Hustenmuskel genannt ist ein Atemhilfsmuskel, er zieht den oberen, mittleren Rücken zusammen.
Diese Muskelgruppe (A/B/C) wird durch unbewusstere Handlungen aktiviert, “Husten, Nießen, Gähnen und Lachen“ daher ist sie schwerer über das Bewusstsein anzusteuern. Sie drücken das Luftvolumen und damit das Zwerchfell (grüne Pfeile) abwärts und ermöglichen dadurch erst eine nötige aktive Kehlfunktion. Der Zusammenschluss dieser Muskeln stellt in meiner Darstellung die Muskelgruppe dar, die meistens zu schwach ist und deshalb gestärkt werden muss.
Diese Muskeln bewirken eine Kehlöffnung!
D = Zwerchfell Atemhauptmuskel
E = Bauchmuskel einschließlich der Beckenboden unterhalb des Zwerchfells, die das Zwerchfell und damit das Luftvolumen hochdrücken. Also die andere Kraft!
Der untere Bereich wird durch bewusste Handlungen aktiviert, z.B. das “Tragen von Gewichten“, daher ist jedem Menschen dieser Kraftimpuls bekannt und damit gut anzusteuern.
Diese Muskeln bewirken einen Kehlverschluss!
Unsere beiden Kraftimpulse (A/B/C) und /D/E) haben also eine unterschiedliche Wirkung auf unsere Kehlmuskulatur
Zeichnungen: EDITION Von der Wöste
Deshalb rede ich in meiner DVD von der „Tragekraft“ und der „Gegenkraft“!
Hier nun ein grobes Schema der Blasebalg-Kräfte bei verschiedenen Tonhöhen und Lautstärken.
Maximale Kraft von A/B/C, minimaler Kraft von D/E ist die Blasebalg-Einstellung für einen lauten, sehr tiefen Ton (Pedaltöne). Muskeln A/B/C drängt das Zwerchfell weit nach unten und öffnet die Kehle.
Weniger Kraft von A/B/C und minimaler Kraft von D/E ist die Blasebalg-Einstellung für einen leiseren tiefen Ton. Bei geringerer Kraft von Muskeln A/B/C wird das Zwerchfell nicht so tief heruntergedrängt.
Je höher der Ton werden soll, desto mehr muss sich D/E einschalten, aber nur als Gegenkraft zu A/B/C. Dadurch verengt sich die Kehle immer mehr, die Luftgeschwindigkeit, bzw. der Luftdruck wird erhöht und der Ton wird dadurch höher.
Nun haben wir einen Blasebalg, der sich von dem oben beschriebenen einfachen Prinzip, erheblich unterscheidet. Wir haben nun nicht nur mehr oder weniger Luftdruck (höher/tiefer), sondern auch mehr oder weniger Luftvolumen (lauter/leiser). Damit kann dann erst ein „Crescendo und Decrescendo“ musikalisch umgesetzt werden. Wenn wir also in der Blastechnik von einem Blasebalg-Prinzip sprechen, dann bitte immer von dem komplizierten Prinzip und nicht vom oben erwähnten einfachen “Trötenprinzip“.
Ein Crescendo oder Decrescendo bei einer gleichbleibenden Tonhöhe ist also ein sehr komplizierter Vorgang für die Atemhilfsmuskulatur, für das Zwerchfell mit seinen Bauchmuskeln und natürlich die Kehlmuskulatur, die sich in dem Maße öffnen muss, wie es die zunehmende Lautstärke erfordert. Ansonsten würde der Ton bei zunehmender Lautstärke unschöner. Dieser komplizierte Vorgang wird über eine Klangvorstellung gesteuert, wobei auch die Klangvorstellung allein nicht das gewünschte Ergebnis bringt. Das Wissen, an welchen Stellschrauben man drehen muss wäre bei der Erlernung schon hilfreich.
Da nun die unterschiedlichen Tonhöhen und die unterschiedlichen Lautstärken auf dem Blechblasinstrument ein unterschiedliches Luftvolumen und verschiedene Luftgeschwindigkeiten / Luftdrücke benötigen, muss die dafür vorgesehene Steuerung im Brust und Bauchraum liegen, bevor die geballte Luft auf die empfindliche Kehle trifft.
Nur so ist eine (relative) Treffsicherheit der richtigen Töne möglich. Deshalb ist das Blasinstrument ja so heikel zu spielen. Dieses flexible Kraftspiel im Körper lässt sich nicht mit „Lockerheit“ erreichen, sondern mit gesteuertem Krafteinsatz.
Wir sehen also auf den Zeichnungen, wie die beiden Muskelgruppen gegeneinander arbeiten (grüne Pfeile). Wenn Muskelgruppe A/B/C stark genug ist und dem Druck von Muskelgruppe D/E standhält, hat die empfindliche Kehlfunktion überhaupt erst eine Möglichkeit, aktiv zu werden, was den Weg zur Tonschönheit ermöglicht. Dies wird in meiner DVD
“Die Problematik der Atemstütze bei Blechblasinstrumenten“ ausführlich erklärt.
Wenn aber, wie oben beschrieben, die Muskelgruppe A/B/C schwieriger anzusteuern ist, da nicht so bewusst und meistens zu schwach, ich verweise hier auch auf meinen Artikel „Das Blasinstrument und der Atemhilfsmuskel“ dann liegt es ja auf der Hand, dass bei der Erlernung der Blastechnik die Muskelregion A/B/C ins Bewusstsein genommen werden muss und nicht die untergeordnete Funktion der Bauchregion D/E.
Obwohl die Lockerung D/E ein Teil der Lösung ist, möchte ich den Schülern mit Tonproblemen, und um diese geht es, lieber den Hinweis zur richtigen Kraft geben, was meines Erachtens ein sinnvollerer Wegweiser ist. Die Verkrampfung der Bauchregion, die nur eine Kompensation ist, lockert sich dann meistens von allein.
Somit ist der Hinweis zur Lockerheit nur die halbe Wahrheit, aber kein Widerspruch.
Der innere Druck (intraorale Druck) bei den verschiedenen Blasinstrumenten ist als Tabelle in meinem Artikel „Tonprobleme? Druck im Hals? aufgezeigt. Auch möchte ich in diesem Zusammenhang erwähnen, dass Edward Tarr in seinem Buch “Die Trompete“ darauf hingewiesen hat, dass die Trompete das anstrengendste Instrument ist, was durch die oben erwähnte Drucktabelle bestätigt wird.
Diese beiden Kräfte müssen immerhin 131 mmHg oder umgerechnet 0,175 bar erzeugen. Und das ist für Muskel D/E kein Problem aber für Muskel A/B/C eine sehr anstrengende Tätigkeit.
Wenn ein Schüler sich also dieses Instrument zur Erlernung aussucht, sollte er von Kraft nicht abgeschreckt sein. Nur wo und in welcher Körperregion die Kraft aufgebaut werden muss, ist für den Schüler die entscheidende Frage.
Was ich unten lockere muss ich oben mit Kraft kompensieren, ansonsten habe ich keine Luftgeschwindigkeit und diese ist nun unerlässlich.
Der gefühlte Zugang zu diesen Muskeln (A/B/C) und damit der Weg zur Stärkung habe ich in meiner DVD mit 5 kleinen Videos aufgezeigt.
Und nun zum Ziel: was erwartet euch nach dem ihr die richtigen Muskeln trainiert habt? Ihr empfindet die Anstrengung im normalen Tonumfang nicht mehr. Die Kehle ist vom Druck befreit. Glaubt aber dann nicht, dass man das Instrument mit Leichtigkeit beherrschen kann. Ihr seid nur Meister Eures Instrumentes geworden und durch eure gezielt eingesetzte innere Kraft, fühlt ihr eine relative äußere Lockerheit, was ich jedem wünsche.
Zusammenfassung:
A/B/C stärken und D/E zurücknehmen, das fördert die Luftgeschwindigkeit, den Luftdruck und aktiviert die Kehlfunktion. Das bedeutet, dass die Atemhilfsmuskel die Führung übernehmen müssen. Im normalen Leben sind diese Muskeln eben nur untergeordnete Hilfsmuskel.
Diese Umwandlung, wenn nicht von der Natur gegeben, ist ja auch “die Kunst der Blastechnik“.
Das “zu viel“ oder die Dominanz der falschen Kraft kommt dadurch, dass der gebende Impuls, also die Ansteuerung der richtigen Kraft für die allermeisten Bläserschüler schwieriger ist oder gar nicht gefühlt wird. Das hat zur Folge, dass der Körper mit der falschen Kraft diese Schwachstelle zu kompensieren versucht, was dann zur Verkrampfung führt.
Mein Ansatz zur Erlernung der Atemstütze ist das zu entwickeln und zu stärken und ins Bewusstsein zu bringen, was zu schwach ist. Nun wissen wir alle, dass das gesprochene Wort eine Wirkung hat und damit eine Assoziation vermittelt.
Um Missverständnissen vorzubeugen hier eine kleine Begriffserklärung:
„Kraft“ ist in der Bläserpädagogik eine gezielt eingesetzte Energie um etwas zu bewirken, also positiv!
„Verkrampfung“ ist eine unkontrollierte Kraft und damit das Gegenteil, also negativ!
„Locker“ ist eine Entspannung und hat keinen Energieimpuls, also neutral!
Man findet unter dem Synonym „locker“ sogar Begriffe wie “als nicht wichtig erachten“ oder “nicht sehr ernst nehmen“ oder “die Beine hochlegen“ 1) So eine Assoziation ist natürlich das Gegenteil von dem, was die Erlernung der Trompete von einem Schüler fordert und was auch kein Pädagoge seinem Schüler vermitteln möchte.
Das man also Verkrampfungen in der Bläserpädagogik mit Lockerheit auflösen will ist vollkommen richtig. Aber so entsteht noch kein Ton, um dessen Klangschönheit es aber doch eigentlich geht. Dieser klangvolle schöne Ton entsteht nur durch eine gezielt eingesetzte Kraft und da beginnt die Arbeit des Trompetenpädagogen. Daher kann ich nur von gezielter Kraft (mehrere Muskelimpulse) sprechen, die störende Verkrampfung in der Bauchregion spielt dann nur noch eine untergeordnete Rolle, da sie ja auch nur eine Kompensation ist.
Möge jeder selber einmal prüfen, was das Wort „locker“ in ihm bewirkt und ob diese Wirkung zur Erlernung des anstrengendsten Blasinstrumentes wirklich beiträgt.
Der Slogan „Locker und Leicht“ ist in der Bläserpädagogik zwar auch eine Wahrheit aber eben nur die halbe Wahrheit oder schlimmstenfalls nur die Beschreibung des Endergebnisses - also eine Phrase - und die hilft nun niemandem weiter.
Dieser Aufsatz ist eine theoretische Erklärung, den scheinbaren Widerspruch zwischen „Lockerheit“ und „Kraft“ aufzuzeigen. Das Verstehen dieses scheinbaren Widerspruchs ist die Voraussetzung um eine Lösungsmöglichkeit zu finden. Allein durch diesen Aufsatz wird man höchstwahrscheinlich die bläserischen Probleme nicht lösen können. Eine pädagogische Betreuung wäre deshalb ratsam.
1)
https://www.openthesaurus.de/synonyme/locker abgerufen am 19.02.2020
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